Die Chemikerin Lucie Tanner hat in den Usambara-Bergen in Tansania Orchideen gesammelt und vier Kinder grossgezogen. Noch heute, mit 96 Jahren, ist ihre Neugierde grenzenlos.

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Lucie Tanner im Jahr 1946 mit ihrer afrikanischen Wildkatze, einem Serval. Bilder: Privatarchiv Lucie Tanner

«Ich brauche nur die Augen zu schliessen und schon ist sie da, die Erinnerung, wie in einem Film», sagt Lucie Tanner, und für einen Moment schliesst sie die Augen und taucht das Zimmer im Altersheim in Winterthur ins Dunkel. Bilder von Mazumbai tauchen auf, dem Ort in den Usambara-Bergen in Tansania, an dem «Lus» ihr halbes Leben verbrachte. Bilder vom Haus mit den Trockenmauern und natürlich vom Urwald, «wohl das Schönste, was es auf der Erde so gibt».

 

Am 1. September 1945 bestiegen Lucie Tanner und ihr Mann John einen Zug in Annemasse, einem Vorort von Genf. Mit dabei hatten sie vier schwere Handkoffer, einen Rucksack und eine Tasche mit Proviant. Drei Mäntel hatte Lus über ihren Arm geschlagen. Es war ein Abschied für unbestimmte Zeit. John war der Sohn von Hugo Tanner, Schweizer Honorarkonsul im ostafrikanischen Tanganjika – dem heutigen Tansania – und General Manager der Amboni Estates Ltd., einem Sisal-Unternehmen in der Nähe der Küstenstadt Tanga. Mit 18 Jahren bestand John Tanner die Aufnahmeprüfung für ein Chemiestudium am Technikum Winterthur. Und verliebte sich in seine Klassenkameradin «Lus».

 

Eines Tages schenkte John seiner Freundin eine Mappe mit Kohlezeichnungen aus Afrika. Ein Steppenfeuer. Ein Baum. Ein Küstenstreifen. Auf die Mappe schrieb er in grossen Buchstaben: «Du wirst begreifen müssen!». Lucie Tanner begriff. John wollte zurück nach Tanganjika, seiner Heimat. Er sollte die Leitung der Kaffee- und Chininpflanzung «Mazumbai» in den Usambara-Bergen übernehmen.

Reise ins Ungewisse

Die Reise führte sie durch das kriegsversehrte Frankreich und Spanien nach Lissabon. Dort schiffte sich das frisch vermählte Ehepaar auf der «Mouzinho» nach Afrika ein. Je näher sie den Tropen kamen, desto exotischer klangen die Namen der Häfen, an denen der Dampfer anlegte: Dakar, San Tomé, Principe. In Angola bestiegen die Tanners eine Bahn, reisten durch den Kongo. Nach drei Monaten kamen sie in Tanganjika an.

 

Lucie Tanner war auf ihr neues Leben in Afrika gut vorbereitet. «Ich war ein Einzelkind und wurde sehr streng erzogen», sagt Tanner. Ihre Eltern verlangten, dass sie im Garten half, die Hausaufgaben gewissenhaft erledigte und gute Zeugnisse aus der Schule nach Hause brachte. Die Erziehung zur Gewissenhaftigkeit und Selbständigkeit stellte sich später als ideale Vorbereitung für das Leben im Urwald heraus. Während ihr Mann in Mazumbai die Kaffee- und Chininpflanzungen beaufsichtigte, besorgte sie den Haushalt, gab Nähkurse für ortsansässige Afrikanerinnen und wurde Mutter von vier Kindern.

Im Orchideen-Paradies

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Auf Streifzügen im Wald entdeckte Lucie Tanner neue Orchideen, etwa die nach ihr benannte Art Tridactylus tanneri.

Und dann war da dieser Wald. Stundenlang streifte sie alleine oder mit dem Waldhüter Mgaa Sabuni durch das Unterholz und staunte über die noch unberührte Natur. Nach der Unabhängigkeit Tansanias wurde Mazumbai zum Magnet für Wissenschaftler aus aller Welt. Botaniker der Royal Botanic Gardens in Kew ermunterten Lucie Tanner, alle Pflanzenarten, die ihr unbekannt schienen, zu dokumentieren. Tanner legte ein Herbarium an. Oft wartete sie wochenlang, bis sich eine Orchidee vom Baum löste. Dann presste sie die Pflanze und legte die Blüten in Alkohol ein. Auf ihren Reisen in die Schweiz machte sie einen Abstecher nach Kew in England und brachte ihre Funde aus Mazumbai. Insgesamt hatte sie 60 Orchideenarten gefunden, darunter vier bis dahin unbekannte. Sie tragen heute den Beinamen «tanneri». «Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, wenn eine Pflanze deinen Namen trägt», sagt die 96-Jährige strahlend.

Wundermittel für Europa

In den 1950er-Jahren entdecken Wissenschaftler, dass man aus den Blättern der Sisalpflanze nebst Fasern auch eine Substanz namens Hecogenin gewinnen konnte. Diese versprach die Herstellung des gerade aufkommenden Wundermittels Cortison zu vereinfachen. Das von Lus’ Schwiegervater Hugo Tanner geführte Sisal-Unternehmen in Tansania beschloss, eine Hecogenin-Fabrik zu errichten, um den europäischen Markt zu beliefern. Und Lucie Tanner wurde 1953 kurzerhand zur Leiterin der Fabrik ernannt. «Ich bekam eine schöne Equipe von sieben Männern und legte selbst Hand an», erinnert sie sich. Aus dem Saft der Sisal-Blätter wurde eine trübe Flüssigkeit gewonnen, die mit konzentrierter Schwefelsäure gekocht und zentrifugiert wurde. Das gewonnene Roh-Hecogenin verschickte man als Granulat nach England. Nach sieben Monaten konnte Lus ihrem Nachfolger eine gut funktionierende Fabrik übergeben. Dann reiste sie zurück in den Urwald von Mazumbai.

Ein neues Leben in der Schweiz

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Erinnerungen an Afrika sind der 96-jährigen Lucie Tanner heute noch wichtig.Beat Märki

Am 26. November 1982 verliessen die Tanners Tansania. Es regnete in Strömen, als sie sich das letzte Mal zum Haus in den Bergen umblickten. Der Entscheid war ihnen schwergefallen. Doch das Leben in dem von wirtschaftlichen Krisen gebeutelten Land war zusehends schwieriger geworden. So forderte die Regierung, dass alle «Niedergelassenen», zu denen auch die Tanners gehörten, ihren Besitz in der Schweiz nach Tansania transferieren müssten. Eine für sie unzumutbare Forderung.

 

«Zurück in der Schweiz hatte mein Mann die gute Idee, so zu tun, als wären wir hier in den Ferien», sagt Tanner. Doch lange liess sich diese Illusion nicht aufrechterhalten. Bald kam der Gang zu den Ämtern. Die Suche nach einer Krankenkasse, nach finanzieller Sicherheit, nach neuen Lebensinhalten. Lucie Tanner besuchte die Kurse der Volkshochschule: Sie vertiefte sich in die Geschichte des Frühmittelalters, las über die Kreuzzüge, interessierte sich für Kunst und für die Geschichte ihrer Heimatstadt Winterthur. Mit fast 90 Jahren entschlossen sich Lus und John zu einer tiefgreifenden Veränderung: Im Dezember 2009 zogen sie gemeinsam in ein Altersheim. Doch nur wenige Monate später starb John 91-jährig. Dennoch hat sich Lus ihre Neugierde und ihre Freude an den kleinen Dingen des Lebens erhalten. Das ist ihr grosses Glück. «Noch heute stürze ich mich von einer Sache in die nächste, möchte Dinge lernen, die ich noch nicht weiss», sagt sie, lacht, und schliesst für einen kurzen Moment die Augen.

 

Lukas Meier

 

 


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