Insekten werden voraussichtlich ab nächstem Jahr in der Schweiz als Lebensmittel verkauft. Doch will die Krabbelviecher überhaupt jemand essen? Eine Einschätzung von Ekelforscher Paul Rozin.
In anderen Regionen der Welt gehören Insekten zum normalen Speiseplan. Doch hierzulande löst die Vorstellung, sich eine knackige Heuschrecke in den Mund zu stecken, bei den meisten Menschen Abscheu aus.
Herr Rozin, haben Sie schon mal Insekten gegessen?
PAUL ROZIN: Ja, schon mehrmals, zum Beispiel Mehlwürmer und Grillen
Haben Sie sich nicht geekelt?
Nein, ich ekle mich vor sehr wenig. Höchstens ein bisschen vor rohen Eiern und sehr stark riechendem Käse. Abgesehen davon würde ich fast alles probieren.
Glauben Sie, dass die Menschen hierzulande künftig Insekten essen werden?
Ich glaube kaum, dass sie ein fester Bestandteil des Speisezettels werden. Und zwar deshalb, weil sie im Moment einfach zu teuer sind.
Nicht vielmehr deshalb, weil die meisten Leute sich davor ekeln?
Nein, man kann seinen Ekel überwinden. Menschen ändern ständig ihre Ernährungsgewohnheiten. Ein gutes Beispiel dafür ist Sushi: Bis vor wenigen Jahrzehnten war es im Westen kaum verbreitet. Und die meisten fanden den Gedanken abstossend, rohen Fisch zu essen. Mittlerweile ist Sushi aber zu etwas ganz Normalem geworden.
Und Sie denken, dass das auch bei Insekten funktionieren kann?
Ich bin mir nicht sicher. Beim Sushi hat es wahrscheinlich funktioniert, weil es einfach gut schmeckt. Bei Insekten ist das etwas anders, für meinen Geschmack sind sie nicht lecker genug. Ein Beispiel: Wenn man jemanden überzeugen will, Schokolade zu essen, muss man ihn nur dazu bringen, einmal davon zu probieren. Schon ist die Sache klar. Aber niemand, der eine Grille probiert, wird hinterher sagen, mmh, köstlich, darauf habe ich mein ganzes Leben lang gewartet!
Gäbe es eine andere Möglichkeit, den Leuten Insekten schmackhaft zu machen?
Insekten sind im Vergleich zu Fleisch eine nachhaltige und umweltschonende Proteinquelle. Dieses Argument kann sicher dazu beitragen, Menschen in der westlichen Welt zu überzeugen. Aber
das allein reicht nicht. Aus meiner Sicht wäre es sinnvoll, Insekten nicht als Ganzes, sondern zu einem Mehl verarbeitet anzubieten. Das fügt sich gut in unsere Küche ein, denn man kann daraus zum Beispiel Gebäck machen. Ausserdem senkt es für viele Menschen die Hemmschwelle, da sie weniger Ekel verspüren. Das belegen Befragungen, die wir durchgeführt haben.
Warum verspüren wir überhaupt Ekel?
Die meisten Forscher gehen davon aus, dass er uns vor Dingen schützen soll, die uns krank machen können. Zum Beispiel ist der Geruch von vergammeltem Fleisch extrem widerlich. Das hält uns davon ab, es zu essen und uns eine Lebensmittelvergiftung zu holen. Auch unbekannte Nahrungsmittel könnten mit irgendwelchen Krankheitserregern verunreinigt sein. Deshalb sind wir ihnen gegenüber skeptisch oder finden sie sogar abstossend.
Ist der Ekel vor bestimmten Dingen angeboren?
Nein, wir erlernen ihn. Er hat zwar wahrscheinlich eine genetische Komponente, denn man findet ihn in allen Kulturen. Aber er tritt nicht von Geburt an auf, sondern prägt sich erst im frühen Kindesalter aus. Einjährige Kinder zeigen noch keine Abscheu, sie stecken so ziemlich alles in den Mund, sogar ihre eigenen Fäkalien. Zwei- bis Dreijährige haben dann bereits gelernt, bestimmte Dinge nicht zu essen, in den westlichen Kulturen zum Beispiel keine Insekten. Wenn man aber eine Kakerlake in ihr Essen taucht, essen sie dieses hinterher trotzdem noch. Erst bei Vier- oder Fünfjährigen ist das Ekelgefühl voll ausgeprägt, sie verschmähen das Essen nach der Berührung mit einer Kakerlake.
Weshalb werden in vielen Gegenden der Welt Insekten gegessen, aber nicht bei uns?
Das ist nicht leicht zu beantworten. In fast allen Kulturen gibt es Nahrungstabus. Sie beziehen sich zwar auf verschiedene Lebensmittel, haben aber eine Gemeinsamkeit: Sie betreffen fast immer Essen, das tierischen Ursprungs ist, aber so gut wie nie Pflanzliches. Interessant ist auch, dass mehr als 99 Prozent der Tierarten, die es auf der Welt gibt, nicht gegessen werden, obwohl mdie meisten essbar wären. Deshalb ist gar nicht so sehr die Frage, warum wir keine Insekten essen, sondern warum wir auch sonst die meisten Tiere nicht essen. Ich bin der Ansicht, dass wir es eigentlich generell abstossend finden, Tiere zu essen.
Wieso tun wir es dann trotzdem?
Fleisch ist das energiereichste Nahrungsmittel. Deshalb machen wir bei manchen Tieren eine Ausnahme. Hauptsächlich bei denen, die wir eigens zu dem Zweck domestiziert haben, wie Rinder oder Hühner. Und auch diese müssen gekocht und gewürzt sein, und wir wollen am liebsten gar nicht mehr sehen, dass es einmal ein Tier war. Wir bewegen uns also immer an der Grenze zum Ekel. Manchmal tun wir das aber auch ganz bewusst.
Inwiefern?
Menschen lieben es im Grunde, sich zu ekeln, sie spielen gern mit diesem Gefühl. Dasselbe gilt für andere negative Emotionen. Ich habe vor ein paar Jahren eine Untersuchung darüber publiziert. Leute geniessen es, in einem traurigen Film zu weinen, oder mit der Achterbahn zu fahren, obwohl sie davon Herzrasen bekommen. Wir scheinen Freude daran zu haben, uns schlecht zu fühlen, solange wir nicht wirklich bedroht sind. Ich nenne das gutartigen Masochismus. Den gibt es auch beim Essen. Wenn jemand zum Beispiel das erste Mal stinkenden Käse probiert, wird er sich davor ekeln. Aber viele Menschen lernen, ihn zu mögen, vielleicht sogar gerade wegen seines Geruchs. Die Herausforderung, das Ekelgefühl zu überwinden, kann auch ein Ansporn dafür sein, dass Menschen unbekannte Dinge probieren.
Paul Rozin
Der US-amerikanische Psychologe Paul Rozin untersucht seit mehr als 30 Jahren, wie sich Nahrungsvorlieben und -abneigungen in verschiedenen Kulturen entwickeln. Er ist einer der renommiertesten Forscher auf diesem Gebiet. Für seine erste Untersuchung dazu lebte er einige Zeit in einem Dorf in Mexiko, um herauszufinden, weshalb die Mexikaner so gern scharfe Chilischoten essen. Der heute 80-jährige emeritierte Professor der Universität von Pennsylvania ist weiterhin in verschiedenen internationalen Forschungsprojekten aktiv.
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