Eine regelrechte Invasion findet derzeit im Osten der USA statt: Milliarden von Singzikaden kriechen gleichzeitig aus dem Boden. Ihr einzigartiger Lebenszyklus gibt der Forschung Rätsel auf.

Selten einzeln anzutreffen, sondern meist in Massen: Singzikade der Gattung Magicicada. Foto: ISTOCK

Siebzehn Jahre lang haben sie als unscheinbare braune Larven unter der Erde gelebt. Sie haben gefressen. Sind gewachsen. Haben sich gehäutet und weitergefressen. Jahr für Jahr.

 

Nun ist ihre Zeit gekommen. In diesen Tagen kriechen sie im Nordosten der USA zu Milliarden aus dem Erdboden. Mit einer letzten Häutung verwandeln sie sich in Wesen mit blutroten Augen und durchscheinenden Flügeln: Singzikaden der Gattung Magicicada. Auf Büschen und Bäumen sitzen die Insekten dicht an dicht – bis zu 370 pro Qua­dratmeter. Um Weibchen anzulocken, erzeugen die Männchen der nur 2 bis 3 Zentimeter langen Tiere ein durchdringendes Zirpgeräusch, das die Lautstärke einer Motorsäge erreichen kann. Ihr einziges Ziel: die Paarung.

 

Das gleichzeitige und massenhafte Auftreten der nordamerikanischen Singzikaden versetzt selbst Wissenschaftler in Erstaunen. «Es gibt nichts Ver­gleichbares im Tierreich», sagt Thomas Hertach, Zikadenforscher an der Univer­sität Basel. Periodische Zikaden haben den längsten bekannten Lebenszyklus unter den Insekten. Sie vermehren sich entweder in einem 17- oder einem 13-Jahre-Rhythmus. Es gibt verschiedene Zi­kadenpopulationen, sogenannte Bruten, die in verschiedenen Gegenden der USA auftreten. Weil ihre jeweiligen Lebenszyklen zeitlich versetzt sind, kommt es fast jedes Jahr irgendwo zu einer Zikadeninvasion. Dieses Jahr ist Brut V an der Reihe (siehe Karte).

 

Im violett markierten Gebiet tauchen die Zikaden derzeit auf. Grafik: scitec-media

Geschützt in der Masse

Erstaunlicherweise besteht eine Brut meist nicht nur aus einer Art von Zikaden, sondern aus mehreren – die aktuelle Brut V beispielsweise aus drei verschiedenen Arten. Dennoch schlüpfen alle im selben Jahr, innerhalb eines Zeitfensters von wenigen Wochen im Mai und Juni, sobald die Bodentemperatur über 18 Grad Celsius steigt.

 

Wie die Tiere es geschafft haben, ihre Lebenszyklen derart zu synchronisieren, ist bis heute nicht geklärt. Doch ihr gleichzeitiges Auftreten ist aus biologischer Sicht sinnvoll: «Die schiere Masse sichert das Fortbestehen der Population», sagt Hertach. Denn selbst wenn Räuber wie Vögel oder Eichhörnchen sich satt gefressen haben, bleiben doch immer noch Millionen von Individuen übrig, die sich fortpflanzen können.

 

Trotz ihrer riesigen Zahl richten die Insekten an der Vegetation kaum Schaden an. Und auch für Menschen sind sie völlig ungefährlich, denn sie können weder beissen noch stechen. Das Leben der erwachsenen Tiere ist kurz: Die Männchen sterben gleich nach der Paarung. Die Weibchen leben nur wenige Wochen länger, um ihre Eier in die Rinde von Zweigen zu legen. Nach eini­gen Wochen schlüpfen millimetergrosse Larven, die sich zu Boden fallen lassen und sich in der Erde vergraben – um dort für die nächsten 13 oder 17 Jahre auszuharren.

 

Doch woher wissen die Tiere, wann exakt diese Anzahl von Jahren vergangen ist und sie schlüpfen müssen? «Sie zählen auf irgendeine Weise mit», sagt Chris Simon, Evolutionsbiologin und Zikadenforscherin an der Universität von Connecticut. Während ihrer Zeit im Boden ernähren sich die Larven von Säften, die sie aus den Wurzeln der Pflanzen saugen. Dabei stellen ihnen ihre Futterpflanzen von Frühjahr bis Herbst mehr Nahrung zur Verfügung als während der kalten Zeit im Winter. «Daran erkennen die Tiere wahrscheinlich, wann wieder ein Jahr vergangen ist», sagt Simon. Wissenschaftlich erwiesen ist das jedoch nicht.

 

Manche verrechnen sich

Hingegen scheint klar zu sein, dass die Zikaden in 4-Jahres-Blöcken rechnen. Bis zum Schlüpfen machen die Larven der 17-Jahr-Zikaden fünf Häutungsstadien durch, von denen das erste ein Jahr und die vier weiteren je vier Jahre dauern. Es kommt jedoch immer wieder vor, dass manche Tiere sich verzählen: Bei den 17-Jahr-Zikaden kriecht ein bestimmter Anteil einer Brut – oft Tausende von Tieren – bereits nach 13 Jahren, also vier Jahre zu früh, aus dem Boden. Andere wiederum verspäten sich und kommen erst nach 21 Jahren ans Licht, wie etwa im Jahr 2002 in Nebraska. Viel seltener ist hingegen, dass sich Tiere um ein, zwei oder drei Jahre «verrechnen».

 

Manchmal führen solche Irrungen zu dauerhaften Verschiebungen des Lebenszyklus: Im Verlauf der Evolution kam es mehrmals vor, dass sich aus einer bestimmten Brut von 17-Jahr-Zikaden eine Unterpopulation abgespaltet hat, die nun im 13-Jahres-Rhythmus lebt. «Bei ihnen muss sich genetisch etwas verändert haben», sagt Chris Simon.

 

Suche nach der inneren Uhr

Die Veränderungen könnten in soge­nannten Uhren-Genen aufgetreten sein, wie sie bei vielen Organismen, unter anderem Taufliegen, Mäusen und auch beim Menschen, schon seit längerem bekannt sind. Allerdings steuert die Aktivität von Uhren-Genen in der Regel biologische Rhythmen, die ungefähr einen Tag dauern, also beispielsweise unseren Schlaf-Wach-Rhythmus. Für längere Rhythmen von mehreren Jahren sind bisher jedoch noch keine Uhren-Gene bekannt.

 

Doch sie könnten die Taktgeber für den Lebensrhythmus der Zikaden sein. Um solche Uhren-Gene zu finden, will Biologin Chris Simon nun das kom­plette Erbgut von 13- und 17-Jahr-Zikaden derselben Art entschlüsseln und die beiden vergleichen. Bisher sucht sie aller­dings noch nach einer Finanzierung für das Projekt.

 

Die Geheimnisse der periodischen Zikaden zu erforschen, ist für Wissenschaftler nicht nur des Geldes wegen schwierig. «Wenn Sie 17 Jahre warten müssen, bis dieselbe Brut wieder schlüpft, können Sie diese vielleicht nur dreimal im Leben beobachten», sagt Thomas Hertach. Verschwindet Brut V in wenigen Wochen wieder im Erdreich, wird sie erst im Jahr 2033 wieder zurückkehren.

 

Claudia Hoffmann 

 

 


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