Die virtuelle Realität fühlt sich realer an, als sich viele vorstellen können. Und sie kann missbraucht werden. Ein Ethikkodex soll nun die Verwendung der Technologie regeln.

 

Gewalt in der virtuellen Realität – zum Beispiel in 3D-Computerspielen – kann möglicherweise die gleichen seelischen Schäden verursachen wie tatsächlich erlebte Gewalt. Foto: Crytek

Er empfindet die junge Frau als Bedrohung und richtet seine Waffe auf sie. In diesem Moment hält sie ihre eigene Pistole an ihre Stirn – und drückt ab. Zitternd lässt Sean Buckley seine Waffe sinken. Erst jetzt wird ihm wieder bewusst, dass er eine Computerbrille trägt, die ihn in eine dreidimensionale künstliche Realität versetzt hat. Seine Pistole ist nicht echt, die tote Frau auch nicht. «Aber es fühlte sich so real an», beschreibt Sean Buckley sein Erlebnis. Der Redaktor der amerikanischen Ausgabe des Tech-Blogs «engadget» sollte nicht allzu zart besaitet sein – er schreibt regelmässig über virtuelle Realität (VR) und ist es gewohnt, in gewöhnlichen Computerspielen der Killer zu sein. Aber der Selbstmord hat ihn mitgenommen.

 

Täter lassen sich in den Körper des Opfers versetzen

Die virtuelle Realität macht Erfahrungen sehr viel realer, als es sich die meisten von uns vorstellen können. Und sie ist im Kommen: In diesem Jahr wird der Durchbruch im Massenmarkt erwartet. Sie verändert nicht nur Computerspiele, sondern auch das echte Leben.

 

Das erfuhren beispielsweise verurteilte Straftäter in Spanien, die freiwillig an einem Experiment zur Resozialisierung teilnahmen. Die Männer, die man wegen Gewalt gegen Frauen verurteilt hatte, wurden mittels virtueller Realität in Körper deutlich kleinerer Frauen versetzt. Dann trat ihnen in einer Art Computerspiel ein grosser, Furcht einflössender Mann entgegen, schrie sie an und drohte ihnen. Das sei eine sehr reale Erfahrung gewesen, schilderten die Probanden später den Versuchsleitern des EU-Forschungsprojektes Vere. Sie konnten sich in ihre Opfer hineinversetzen und nachempfinden, was sie ihnen angetan hatten.

 

Die virtuelle Realität lässt uns in anderen Körpern heimisch werden. Das bringt Vor-, aber auch Nachteile: Die spanischen Straftäter können eventuell so resozialisiert werden. Gleichzeitig verdeutlicht das Experiment, dass man mit der neuen Technologie Menschen manipulieren kann. Mehr als das: Wenn die Erlebnisse in der VR so real sind, kann diese Traumata auslösen oder gar zur Folter genutzt werden. So machen manche Gamer derzeit Erfahrungen, die der Gesellschaft besser erspart bleiben sollten. In einer Demo für ein Sony-Headset konnte der Spieler die Pistole an die eigene Schläfe setzen und abdrücken. Doch erste Tester litten nach ihrem virtuellen Selbstmord derart unter Stress, dass das Unternehmen das Feature wieder entfernte. «Dieses Medium ist sehr mächtig, deshalb müssen wir vorsichtig mit dem sein, was wir anbieten», sagte Sony-Chef Shuhei Yoshida dazu.

 

Ethiker warnen vor der Macht der Technologie

Für Thomas Metzinger, Philosoph an der Uni Mainz, sind solche Effekte einerseits ein Glücksfall. Metzinger belegt mittels interdisziplinärer VR-Experimente seine These, dass unser Ich-Gefühl nicht notwendigerweise am inneren Bild unseres Körpers hängt. Ein Avatar kann sich deshalb anfühlen, als gehöre er zu uns selbst – die Erfahrungen der Spieler scheinen das zu belegen. Andererseits macht das die Technologie mächtig und gefährlich, wie Metzinger warnt: «Eine drohende Gefahr sind Anwendungen durch Militärs oder Geheimdienste.» Gleichzeitig haben Wissenschaftler in den vergangenen Jahren das Potenzial der VR für das echte Leben gezeigt.

 

Eingetaucht in virtuelle Welten: Testpersonen mit 3-D-Brillen. Foto: Samsung

Sie versetzten beispielsweise Menschen mit rassistischen Vorurteilen in die Körper von Farbigen, wodurch ihre Vorurteile abnahmen. In einem anderen Experiment wurden Menschen als Superman inkarniert und wurden dadurch in Verhandlungen frecher. Menschen im Körper eines grösseren Avatars agierten aggressiver als Besitzer eines kleineren Avatars. Und wer in eine ältere Version seines eigenen Körpers schlüpfte, veränderte seine Handlungen im realen Leben: Er legte mehr Geld für die Rente an.

 

Möglicherweise kann man Menschen mittels VR auch ihrer wahren Identität berauben. Metzinger fürchtet, dass die Nutzung eine sogenannte Depersonalisierungsstörung auslösen kann. Betroffene nehmen ihren eigenen Körper nicht mehr wahr, die Realität kommt ihnen nicht mehr echt vor. «Wir müssen die Menschen darüber aufklären, dass wir noch nicht wissen, welche psychischen Langzeitfolgen die Nutzung der Technologie hat», sagt Metzinger.

 

Nutzung von Avataren regulieren

Zusammen mit dem Psychologen Michael Madary von der Uni Mainz hat er nun den ersten Ethikkodex für die virtuelle Realität verfasst und im Fachmagazin «Frontiers in Robotics and Artificial Intelligence» veröffentlicht. Es gibt viele Fragen zu klären: Wenn Menschen in einem anderen Körper freigiebiger sind – ist ihr Geld dann auch real weg? Darf man Menschen mittels Werbung manipulieren, während sie sich in einem Körper aufhalten, der sie empfänglicher dafür macht? Die Forscher empfehlen, die Nutzung von Avataren zu regulieren und Nutzer darüber aufzuklären, dass das Risiko, angesichts von Gewaltdarstellungen Traumata zu erleiden, mit der neuen Technologie wächst. Grenzen der realen Welt sollten auch Grenzen in der virtuellen bleiben. Schliesslich werden Nutzer die VR auch als Möglichkeit sehen, Grenzen straflos zu überschreiten. Aber ebenso wie Folter kann beispielsweise auch eine virtuelle Vergewaltigung die gleichen schlimmen Folgen für die Opfer haben wie in der Realität.

 

Nicht zuletzt sollten auch Wissenschaftler ihre Probanden darüber aufklären, dass sie nicht wissen können, welche Auswirkungen Experimente haben. Sollte man diese überhaupt durchführen, selbst wenn den Probanden keine Unversehrtheit garantiert werden kann? Man könne nicht ganz darauf verzichten, so Metzinger und Madary. Schliesslich nutze es der Menschheit, zu erfahren, wie die virtuelle Realität wirkt. Alle bekannten Risiken sollten den Probanden erläutert werden. Auch jenes, dass sie eventuell ihr Verhalten ändern, ohne es selbst zu merken.

 

EVA WOLFANGEL

 

 


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